Der Tanz von Shakti/Shiva
.. eine jahrtausende alte bewegte und bewegende Meditation aus der Tradition des Tantrismus des indischen Kaschmir
Tandava – wie ihn Daniel Odier, Meister des kaschmirischen Shivaismus der Kaula-Tradition, lehrt – ist ein meditativer Tanz, der sehr langsam und kontinuierlich, ohne direktes Tun, frei improvisiert wird. Er führt uns in eine tiefe Entspannung, die unserem Körper erlaubt, sich auf sehr subtile Art wie ein Musikinstrument einzustimmen, so dass er harmonisch mit den Schwingungen des Kosmos vibrieren kann. Dieses Vibrieren mit der Totalität wird Spanda genannt und ist uns angeboren, es kann sich jedoch nicht manifestieren, wenn wir auf emotionaler, mentaler oder körperlicher Ebene angespannt und erstarrt sind.
Unser Körper ist mit einem sensiblen Saiteninstrument, wie z.B. einer edlen Stradivari, vergleichbar. Eine gut eingestimmte Violine schwingt mit in der Resonanz ihrer Umgebung. Bei zu viel Spannung drohen die Saiten zu reißen, was für den Körper unter anderem mit Schmerzen, Leistungsdruck, den Kopf nicht frei haben können oder Muskelverspannungen vergleichbar ist. Sind sie zu locker, klingen die Saiten nicht, was sich zum Beispiel in fehlender Motivation, Unlustgefühlen, Unzufriedenheit oder Depressionen ausdrücken kann.
Bewusstheit statt Anstrengung
In den tantrischen Schriften des Altertums wird erwähnt, dass dieser mystische Tanz in vier Phasen die älteste Form des Yoga und somit der Ursprung aller uns heute bekannten Yogaformen ist.
Er beginnt in einer sitzenden Stellung mit aufrechter Wirbelsäule – am Boden, auf einem Stuhl oder anderswo – mit einem Erfühlen unseres gesamten Körpers und seiner Beziehung zum Raum, und einer speziellen Atemweise, die uns tief entspannt, unseren Körper für den Raum sensibilisiert, unser Becken mit Energie auflädt und unsere Wirbelsäule mobilisiert. Gemäß den tantrischen Texten haben die ersten Yoginis und Yogis diese Art zu atmen vor ca 8000 Jahren den Tigern abgeschaut. Sie waren fasziniert von der Fähigkeit dieser Wildkatzen, aus tiefster Entspannung in sekundenschnelle reagieren und aktiv werden zu können. Deshalb begannen sie, die Tiger genau zu beobachten und nachzuahmen – und das war die Geburtsstunde des Tandava.
Die Atemwellen sind die Basis dieser Meditation, durch sie wird sie getragen, durch sie entsteht jede weitere Bewegung im Körper – sanft, subtil und absichtslos, ohne jegliche Kraftanstrengung. Das ist eine der Ideen des kaschmirischen Yoga – keine Anstrengung, keine Kontrolle, keinen Widerstand gegen den Raum (und den Fluss des Lebens). Jegliche Anstrengung wird durch Bewusstsein ersetzt.
In der zweiten Phase beteiligen sich auch Arme, Hände und Finger an dieser Bewegung, tanzen völlig unabhängig voneinander und entdecken den umgebenden sphärischen Raum; der äußerst geschmeidige Körper nimmt voll und ganz an dieser Entdeckungsreise teil, wobei jede Geste seinen Ursprung im beweglichen Becken nimmt.
Vom Tun ins Sein
Langsamkeit ist wichtig, weil sie den Geist herunterfährt wie einen Computer. Das Gehirn kann sehr langsamen Bewegungen nicht folgen und gibt schließlich die Kontrolle auf. Es gilt also, genau den richtigen Punkt zu finden, an dem das Mentale sich ausschaltet.
In der dritten Phase erhebt sich der Praktizierende dann in eine stehende Position und lässt alles willentliche Tun fallen, um sich dem uneingeschränktem Sein hinzugeben. Daniel bezeichnet Tandava auch als „köstliches Liebesspiel mit dem Raum“, ein Spiel mit der eigenen (räumlichen) Freiheit und Grenzenlosigkeit. Wir berühren und liebkosen den Raum, lassen uns aber auch von ihm liebkosen und berühren. Das Vergnügen, die Lust und die spontane Freude, die wir dabei empfinden können, ist in der spirituellen Tradition des Kashmirischen Tantrismus erlaubt und willkommen.
In der vierten Phase lässt der Meditierende die Vibrationen des Tanzes wieder in einer sitzenden Haltung in seinem Inneren nachklingen und genießt Gelassenheit, Stille, Ruhe und Frieden.
Nach dem Tanzen sind wir geistig wach, ohne körperlich erschöpft zu sein. Wir empfinden Harmonie und Einheit mit uns selbst, unseren Mitmenschen und dem ganzen Schöpfung. Aus dieser Einheit heraus können wir dann beginnen, staunend und mit einem weiten Herzen im Kosmos zu navigieren.
Dieser Yoga ist im Westen kaum bekannt, da die Yoginis und Yogis, die ihn in den Gebieten des Himalaya praktizieren, wenig daran interessiert sind, ihn zu verbreiten. Daher gibt es nur wenige Personen, die ihn lehren.
Tandava verlangt keine Vorkenntnisse oder besondere körperliche Fähigkeiten. Die Einfachheit und Leichtigkeit dieses Yoga verblüfft immer wieder in ihrer Wirkung.
Eintauchen in den Fluss des Lebens
Schon in den ersten Stunden der Praxis beginnen wir die unendlich subtilen Vibrationen zu kosten. Um aber die Gesamtheit unseres psycho-körperlichen Systems von seinen Hemmnissen – also Glaubensmustern, Standpunkten, Projektionen, Konditionierungen, Dogmen, Konzepten und jeglichem Automatismus zu befreien, braucht es schon etwas länger der regelmäßigen Praxis.
Wenn wir dann all die trügerischen Sicherheiten, die uns vorübergehend zwar beruhigen, uns aber am Gewahrsein der Realität hindern, mutig fallen lassen, kann sich unser Körper erschauernd in unendliche Dimensionen weiten. Dann werden wir wieder wie unbeschwerte Kinder bewusst und präsent jeden Augenblick unseres Lebens mit allen Sinnen auskosten und uns immer tiefer, freudiger und vertrauensvoller dem Fluss des Lebens hingeben können.